Die Geschichte klingt typisch und ist doch immer wieder einzigartig. Seit über 50 Jahren wird im 860-Seelen-Dorf Ausbach, einem Ortsteil von Hohenroda, gefeiert. Erst im Saal hinter der Gaststätte, dann im modernen Discoraum. Klaus Niester hat sich auf den Weg gemacht und hinter die Kulissen geschaut.
Manche nennen sie Dinosaurier, die alten Dorfdiscos. Doch das sind sie nicht. Sie sind noch lange nicht ausgestorben und wichtige Treffpunkte für jung und alt in ihrer Region. Der „Red Apple“ in Hohenroda-Ausbach ist so ein Betrieb in Familienbesitz. Anfang November wurde im großen Stil mit Tina Turner Double das 50-jährige Jubiläum gefeiert. Eigentlich ist die Discothek bereits 54 Jahre alt. Corona verhinderte damals das große Fest. Und eigentlich beginnt die Geschichte in Ausbach in der Kuppenrhön in Waldhessen schon vor 150 Jahren. Seitdem gibt es hinter der Gaststätte einen Tanzsaal, in dem gefeiert wird.
Zur zweitägigen Jubiläumsparty in Retro-Dekoration mit alten Schallplatten, Lichteffekten und Spiegelkugeln stand der ganze Ort Kopf. Rappelvoll war es, sagt Geschäftsführer Karl Asbach: „Die Resonanz war top.“ Die Stimmung war so ausgelassen, dass das Tina Turner Double sich derart verausgabte, nach dem Auftritt am Freitag plötzlich keine Stimme mehr hatte und den Samstag canceln musste. Überraschung war für manche Gäste, dass sie tatsächlich auch nach 40, 50 Jahren noch auf Personal von damals trafen. Tatsächlich fühlten sich alle wieder jung und erinnerten sich an die Nächte, in denen manch einer seinen Partner kennengelernt hatte.
Doch zurück zur Geschichte. Auch in den 60er-Jahren spielten die Musiker zum Tanz auf. Auch am damaligen Zonenrand nur zwei Kilometer vor der DDR-Grenze war das Volk im Wirtschaftswunderland Deutschland in Feierlaune. Heinrich Asbach, Karls Vater, erkannte früh die Zeichen der Zeit und setzte neue Akzente. Weniger Top-Forty-Bands, mehr Konserve. Dual-Plattenspieler und ein Telefunken Mischpult wurden angeschafft. Zwei Telefunken Lautsprecher von 1969 sind im Wintergarten immer noch im Einsatz. Auf der Hannover Messe kaufte er 1970 die erste Dynacord Discoanlage. Bereits am 1. Mai hatte er in den umgebauten Räumen mit sechs bunten Lampen an der Decke den Start ins lukrative Discogeschäft gewagt. Der Name ergab sich wie von selbst. Die vielen Soldaten der Besatzungsmächte – in Waldhessen waren es die Amerikaner – feierten außerhalb der Kasernen ausgiebig und brachten internationales Flair in die letzten Winkel der Republik. Auch an der Theke in Ausbach trafen sie sich zum Bierchen und erzählten, dass sie vom Big Apple – einem Spitznamen von New York – kämen. Andere Gäste nahmen den Faden auf und schufen in Kombination mit der regionalen Obstsorte, dem roten Apfel, den Red Apple. Der Name für die neue Discothek war gefunden.
Zwei Jahrzehnte lang führte Heinrich Asbach – heute 84 Jahre alt – mit sicherer Hand und dem Hintergrund einer kaufmännischen Ausbildung den Tanzladen von einem Erfolg zum anderen. Rund fünf Millionen DM soll er in der Zeit investiert haben. Immer wieder wurde um- und ausgebaut. Auch teure Clay Paky Scanner kamen zum Einsatz. 1980 kam in einem Anbau neben dem Discosaal mit eigenen Toilettenanlagen eine Altbierbar im Stil eines Pubs mit roter Telefonzelle und gediegener Holzeinrichtung hinzu. Schon kurz nach der Eröffnung war ein junger Discjockey zum Team gestoßen. Eckhard Zoll aus Heringen, der inzwischen auf mehr als 50 Jahre Bühnenpräsenz zurückblickt, konnte nicht nur Platten auflegen, sondern als Radio- und Fernsehtechniker auch alle technischen Arbeiten erledigen. So erhielt die Discothek schon Mitte der 80er-Jahre als erste der Region eine üppig dimensionierte Sony-Großbildeinwand. Dazu hatte er beste Kontakte zu niederländischen Labels, was dazu führte, dass nach einem Disco-Wochenende die örtlichen Plattenläden fast verzweifelt bei ihm anfragte, woher er die neuesten Scheiben denn hatte. Auch Topkünstler würden engagiert. Die Bellamy Brothers und Precision Wilson sorgten für einen Run auf die Kassen. Jennifer Rush und Boney M. kaufte er für schlappe 3.500 DM ein, kurz bevor sie ihren Durchbruch hatten. Noch heute steht Eckhard, inzwischen 69 Jahre alt, regelmäßig an den Plattentellern – mittlerweile sind diese von Technics. Bei der großen Jubiläumsparty wurde er von DJ Carsten begleitet, der ebenfalls 22 Jahre in der Discothek auflegte.
Heinrich Asbachs Sohn Karl wuchs mit dem „Red Apple“ auf, war schon als 15-Jähriger aktiv dabei. Voll ins Discogeschäft einsteigen wollte er zunächst aber eigentlich nicht. Er studierte in Gießen Betriebswirtschaft und entzog sich damit der Obhut des Vaters. Erst 1990 übernahm er das Ruder. Eine Million DM flossen damals in den Umbau der Discothek. Aus der Bühne wurde ein Café, oberhalb eine Cocktailbar eingerichtet und die Technik und Einrichtung permanent auf den neuesten Stand gebracht. Insgesamt wurden seitdem über 1,5 Mio. Euro investiert. Großartig erweitert hat er den Laden aber nicht. „Lieber weniger und voll als sich verzetteln“, lautete sein Motto. Rekord waren vor einigen Jahren 1.286 Besucher. Aber auch mit 400 Gästen wirken die verwinkelten Räume bereits gut gefüllt.
Als Karl Asbach die Leitung übernahm, war die Zonengrenze gerade erst Geschichte. „Die ersten Monate nach der Grenzöffnung sind keine Heerscharen aus dem Osten zu uns gekommen“, erinnert sich der heute 59-Jährige. Ganz im Gegenteil strömten die Wessis zunächst in den Osten und das nicht nur der Preise wegen. Karl Asbach konterte und lockte die Damen aus Thüringen mit einem „Begrüßungsgeld“ von zehn DM an den heimischen Floor. Insgesamt habe die Grenzöffnung dem „Red Apple“ aber Glück gebracht, denn das Einzugsgebiet wurde mit einem Schlag größer. Schwierig wurde es 2008, als in Hessen das Nichtrauchergesetz zum Tragen kam, während ein paar Kilometer weiter in Thüringen weiterhin gequalmt werden durfte. „Das war für uns eine extreme Herausforderung“, sagt Asbach.
Überrascht und begeistert: Karl Asbach freut sich über den großen Zuspruch zum Jubiläum.
Immer wieder neu, immer wieder anders, mit diesem Konzept elektrisiert Karl Asbach bis heute die Gäste. Zahlreiche Mottopartys von schaurigen Horrorshows über Auftritte von Hypnosekünstlern und Fakiren bis zu zahlreichen Getränkepromotions und der MTV Partyzone mit Sierra Tequila-Support machten den „Red Apple“ zum überregionalen Gesprächthema. Die Besucher reisten aus mehr als 40 km Entfernung an. Allerdings nahm in dieser Zeit die Zahl der großen Tanzpaläste permanent zu. „Wir wurden bis zwei Uhr als Einstieg benutzt, dann ging es in die großen Läden wie das MAD in Eisenach“, erzählt Karl Asbach, der seit 1991 im Hauptberuf als Verkaufsleiter Osthessen/Westthüringen für die Radeberger Gruppe tätig ist.
Mitten an der Durchgangsstraße durch Ausbach: Die Main-Area befindet sich in einem
Gebäude hinter dem Wohnhaus mit Restaurant und Gästezimmern.
Heute besteht die zweigeschossige Discothek aus einem modernen Wintergarten mit auffahrbarem Dach und Außenterrasse, Garderobenflächen sowie einem kleineren Partyraum mit mobilem DJ-Pult für Feste und Feiern im Untergeschoss – daneben ist auch die Gaststätte – und dem großen Discosaal mit angeschlossener Altbierbar, Café und der Partylounge mit zwei mietbaren Tischen für 14 Personen im Obergeschoss mit großer hölzerner Kuppeldecke. Zum Café gehört auch die Ausgabetheke für die Red Apple Dollar-Chips, mit denen an allen Theken bezahlt wird. Über der DJ-Kanzel direkt an der Tanzfläche befindet sich zudem ein zweiter Counter für den Lightjockey und Resident-DJ. Darüber erhebt sich die Cocktailbar mit zahlreichen Sitzgelegenheiten. Der gesamte Aufbau folgt im Discosaal dem beliebten Arena-Konzept mit der Tanzfläche als tiefstem Punkt. Alle Bereiche sind mit Monitoren bestückt, über die auch live von der Tanzfläche übertragen werden kann. Sechs Theken sind über die rund 500 qm große Fläche verteilt. Die Wege zu den Bars sollen kurz sein.
Dass das Geschäft nicht einfacher geworden ist, merkt auch Karl Asbach. Sein Erfolgrezept sind die drei Standbeine, die er geschaffen hat. Neben der Discothek handelt es sich dabei um die Gaststätte und 30 Monteurzimmer in der gegenüberliegenden Pension Zum Landecker, die stets gut belegt sind mit Handwerkern fürs nahegelegene Kali-Werk – über 6.000 Übernachtungen sollen es pro Jahr sein. Schulden sollen nie gemacht worden sein. Darauf legen die Betreiber großen Wert.
Themengerecht gestaltet: die rustikale Altbierbar direkt
neben dem Mainfloor
Aber auch in der Discothek selbst fährt Asbach mehrgleisig. Regelmäßige Öffnungstage gibt es nicht. In den wärmeren Monaten bleibt ob der vielen Dorf- und Vereinsfeste der Tanzbetrieb geschlossen. Für die direkten Nachbarn mitten im Dorf ein echter Vorteil, müssen sie mit im Sommer geöffneten Fenstern nicht den typischen Partylärm erdulden.
Im Winter jedoch werden fast wöchentlich alle möglichen Zielgruppen von alt bis jung passend bedient. Seit zwei, drei Jahren laufen Einheitspartys mit Ost-West-Meeting-Charakter, zuletzt zum Tag der Deutschen Einheit mit DJ Eckhard und dem Ost-DJ Charly, der als erster damals den DJ-Führerschein in der DDR erhalten haben soll. Eine Woche vor dem Geburtstags-Wochenende fand Anfang November eine Teenie-Party statt. Viele der jungen Gäste wurden am Ende von den Eltern abgeholt. „Reihenweise standen nachts Papas und Mamas im Schlafanzug vor der Tür,“ lacht Karls Asbach. Ab und zu legt auch DJ Eckhard auf. „Es gibt heute für uns keine Konkurrenz mehr“, strahlt er, „das ist hier ein echter Feierladen.“
Was sich in den 50 Jahren verändert hat? Karl Asbach muss erst einmal nachdenken. Früher seien die Verkaufsschlager Pils und schon des Namen wegens Asbach-Cola gewesen, heute seien Smirnoff-Red Bull, Jägermeister, Bacardi, Ficken Liqueur und Sierra Shots sowie Modedrinks wie Aperol Spritz und Gin-Tonic die Topseller. Getrunken wurde früher viel, vom Autofahren hielt das nicht jeden ab. „Granatenvoll“ setzte sich so mancher hinters Steuer. Das hat sich geändert. Heute wird ein Fahrer bestimmt, der nüchtern bleibt, oder gleich ein Kleinbus geordert. Eine Clique soll sogar einmal im Jahr mit einem großen 50er-Bus aus der tiefsten Rhön anreisen.
Dass das so bleibt, dafür sorgt Social-Media. Über 20.000 Menschen erreicht Karl Asbach mit seinen TikTok-Videos, bei denen er auf die alten Werbesprüche der Sturm-und-Drang-Zeit setzt: „In ist, wer drin ist“ und „Partytime bei Asbachs Hein“. Geöffnet ist der rote Apfel bis drei Uhr nachts, möglich wären zwei Stunden länger. Dafür sperrt Asbach die Türen schon um 21 Uhr auf und punktet mit der begrenzten Raumkapazität: „Die Leute kommen früh, weil sie Angst haben, dass sie sonst nicht mehr hereinkommen.“ Bei 1.000 macht Asbach Schluss. Tatsächlich standen in der Nach-Corona-Zeit auch schon mal zwei Tausend Nachtschwärmer vor der Tür.
Für die Zukunft plant Karl Asbach im Dachgeschoss eine voll funktionsfähige Museumsdisco einzurichten. Ausgestattet werden soll sie mit altem Equipment und Mobiliar. Sechs antike Dynacord Boxen, Verstärker, Mischpult und Plattenspieler sind noch vorhanden.
Text: Klaus Niester